Ein weißer Rabe fliegt übers Vogtland
Nachdem wir wissen woher die Pest kam und wieso ausgerechnet ein langer Mann die Krankheit ausgebreitet haben soll, beschäftigen wir uns noch mit dem weisen Raben. Der soll ja das Rezept zur Vorsorge vor der Krankheit gewusst haben. Im Sagenbuch Sagen aus Bayerns Nordostgebieten wird das so beschrieben:
In dieser schrecklichen Zeit flog ein weißer Rabe durch das
Vogtland und rief den Leuten zu: "Eßt nur recht Rapunzika, sinsten kimmt
kein Mensch dava!" Wer diesen Rat befolgte, blieb am Leben.[1]
Dieser Teil der Sage wirkt wie nachträglich an die Sage
angefügt. Tatsächlich finden wir diese Aussage in der Chronik von Hof von Enoch
Widmann nicht. Der Ausspruch wurde komplett von einer eigenständigen Sage
übernommen, die uns im „Sagenbuch des Voigtlandes“ von 1871 folgendermaßen
überliefert wird:
Zur Zeit, da die Pest im Voiglande wüthete, kam von Norden
her ein weißer Rabe in's Land und rief: "Freßt nur recht Rapuntica, sinten
kimmt ka Mensch derwä!"
Enoch Widmann hat in seiner Chronik von Hof schon früh viele
Sagen aufgeschrieben. Dadurch können wir gut die Entwicklung bei der mündlichen
Weitergabe der Sagen nachvollziehen. So sehen wir, dass ein Teil, in unserem
Fall der letzte Teil, irgendwann einfach hinzugefügt wurde. Wir haben das ja
schon bei vielen anderen Sagen vermutet, aber hier können wir das wirklich
nachverfolgen. Wir haben quasi einen Beweis dafür. Diese Erkenntnis ermutigt
uns weiter in anderen Sagen nach Brüchen zu suchen, die auf eine
Zusammensetzung hindeuten.
Nach dieser Erkenntnis wollen wir uns aber auch mit dem Inhalt
beschäftigen. Was hat es mit dem Raben auf sich, um welche Pflanze handelt es
sich und hatte sie tatsächlich eine vorbeugende Wirkung gegen die Pest? Um das
heraus zu finden, müssen wir erstmal wissen, um welche Pflanze es sich handelt.
Rapuntika ist bekannter unter dem Namen Nachtkerze. Gegessen
werden die stärkehaltigen Knollen, die ein würziges Aroma haben und sehr gesund
sind. Zu Goethes Zeiten war die Rapuntika unter dem Namen "gelbe
Rapunzel" ein geschätztes Gourmet-Gemüse. Die langen Wurzeln wurden
zumeist gerieben als Salat zubereitet. Der Geschmack erinnert an Meerrettich
und Sellerie.[2] Allerdings
wuchsen die Nachtkerzengewächse ursprünglich in den gemäßigten bis tropischen
Gebieten der Neuen Welt. Im 17. Jahrhundert wurden diese als Zierpflanzen nach
Europa eingeführt.[3] Das
heißt, es gab diese Pflanze noch gar nicht in Europa zur Zeit der großen
Pestwellen.
Also müssen wir weiter suchen und landen bei der
Rapunzel-Glockenblume. Ihre Wurzel ist fleischig verdickt und kann als
wohlschmeckendes Wurzelgemüse wie Sellerie oder Rote Bete zubereitet werden.
Aus rohen Wurzelscheiben und Blättern wurde ein Salat hergestellt. Im Mittelalter
wurde die Pflanze gesammelt und im Garten kultiviert.[4]
Die Rapunzel-Glockenblume hat ihren Namen von ihrer Wurzel,
denn Rapunculus heißt Rübchen. Dabei gab es mehrere einheimische
Glockenblumenarten, die als Gemüse gedient haben: die Rapunzel-Glockenblume,
die Acker-Glockenblume, die Nesselblättrige Glockenblume.[5] Aber auch die Teufelskrallen aus der Familie der Glockenblumen werden einfach
Rapunzeln genannt wegen ihrer rübenförmigen Wurzeln.[6] Alle dieser Glockenblumenarten wurden zwar als Salat gegessen und ihnen wurde
nachgesagt, dass sie gesund und nahrhaft sind, aber als Heilpflanze wurden sie
nicht eingesetzt.
Aber wir müssen unsere Suche noch nicht aufgeben, denn es
gibt noch den Feldsalat, der ebenfalls Rapunzel genannt wird. Und dem Feldsalat
wird tatsächlich eine bedeutsame Heilwirkung zugeschrieben. Er soll vor allem
beruhigend, antibakteriell, blutreinigend leberanregend, harnfördernd und
abführend sein.[7] Lassen wir mal das antibakterielle außen vor, da man das im Mittelalter noch nicht
wusste, passen doch die meisten anderen Eigenschaften gut, um als Vorbeugung
vor der Pest eingenommen zu werden.
Allerdings ist uns in schriftlichen Aufzeichnungen weder der
Feldsalat noch das Rapunzel begegnet. Alte Kräuterbücher erwähnen als
Pestpflanzen, die zum Schutz vor der Ansteckung dienen sollten, unter anderem
den Gemeinen Wacholder, die Kleine Bibernelle oder den Arznei-Engelwurz. Zur
Behandlung der Pestbeulen wurde dann die Schwarze Tollkirsche verwendet.
Außerdem spielen innere und äußere Anwendungen, wie zum Beispiel gebranntes
Wasser, Salz, Pillen, Pulver und Umschläge sowie Salben und Pflaster eine
Rolle. Und auch Amulette, Räucherrituale oder Kräuterbüschel sollten die Pest
vertreiben.[8] Aber keines der Mittel konnte natürlich wirklich gegen die Pest helfen, da man
zu der Zeit viel zu wenig über diese Krankheit wusste.
Nun bleibt noch die Frage: Warum ist ausgerechnet ein weißer
Rabe der Verkünder dieser Nachricht? Denn gerade im Hoch- und Spätmittelalter
galten Raben als Galgen- und Totenvögel. Außerdem hatten sie als Aasfresser ein
schlechtes Image. Gerade nach einer Schlacht mit vielen Toten war der Tisch für
sie reichlich gedeckt. Genauso sahen die Menschen, dass sich die Tiere am
Fleisch gehenkter Zeitgenossen gütlich taten, was ihnen das geflügelte Wort vom
"Galgenvogel" eingetragen hat. Auch das Auftauchen großer Schwärme
galt früher als Vorbote von Tod, Unheil und Pestilenz.[9]
Das Ansehen der Vögel veränderte sich allerdings erst mit
dem Aufkommen des Christentums und dem Rückgang der Naturreligionen stark.[10] Die Germanen sahen die Raben als Boten der Götter, dementsprechend waren sie den Germanen sehr heilig. Das Auftauchen eines Raben galt als ein ausgesprochen gutes Vorzeichen. Auch in Flug und Verhalten waren Raben wichtige Omen.[11]
Vor allem der Flug der Raben war sehr wichtig zur
Vorhersage, gerade und auch bei den Römern. So befragten im alten Rom Auguren,
ein sechzehnköpfiges Gremium römischer Beamter, das Vogelorakel, um zu
erfahren, ob ein geplantes Handeln den Göttern genehm sei. Je nachdem, aus
welcher Richtung ein Rabe einen von den Auguren abgegrenzten Bereich durchflog,
bedeutete das Unheil oder Segen. Kam er von links geflogen, war das ein
schlechtes Zeichen. Kam er aber von rechts bedeutete das eine günstige
Konstellation. Flog gar ein Paar in den "Augural-Bezirk", galt dies
als besonders positiv.[12]
Kommt euch das bekannt vor? Ja, genau! Wir kennen heute den
Aberglauben: „Geht die schwarze Katze von rechts nach links, Glück bringt’s!“ Aber „geht sie von links nach rechts, wird's was Schlecht's!“ Wir sehen dieser
Glaube hat sich bis heute als Aberglaube überlebt. Nur ist das Tier, das Glück
oder Pech bringt, nicht mehr der Rabe sondern, eine schwarze Katze. Der Glaube
an die Macht der Vorhersage durch Raben ging sogar so weit, dass sich Herrscher
und Heerführer weissagen ließen, ob sie mit ihrem Handeln in die Katastrophe
steuerten oder nicht.[13]
Auch bei den Kelten war der Rabe ein wichtiges Tier der
Mythologie, er war der Bote der zwischen der realen und der Anderswelt
vermittelte und so wurde er auch als der Verkünder der Wahrheit angesehen.
Außerdem haben göttliche Raben die Wanderzüge der Kelten angeführt. Auch bei
den Kelten galten Raben als Symbol der Prophezeiung, aber auch der
Fruchtbarkeit. Besonders die Druiden verehrten den Raben als Tier der
Prophezeiung. Der Rabe war auch das Schutztier eines der bekanntesten Clans,
des Clans der Rabenkrieger, den Branovices. Und auch einer der wichtigsten
keltischen Götter, der Sonnen- und Lichtgott Lugh oder Lugos wird stets von
zwei Zauberraben begleitet.[14]
Die Wikinger nutzten die Klugheit der Raben aus, deshalb dienten
Raben im 9. Jahrhundert nach Chr. als Wegweiser und Kompass während
gefährlicher Seefahrten. Zum Beispiel entdeckten die Wikinger mithilfe von
Flokis Raben Grönland.[15]
Diese tiefe Verwurzelung in der heidnischen Religion sorgte
dafür, dass mit der Christianisierung der Rabe
in Europa aufgrund seiner mythologischen Bedeutung zunehmend als ein
dämonisches Wesen und böses Tier galt. Als Aasfresser begleitete der Rabe den
Teufel und als Unglücksrabe kündigte er Schaden an.[16] Dieser Glaube ging dann später auf die Hexen und Hexer über. Der Aberglaube war
so stark, dass vor allem Frauen schon verteufelt wurden, wenn ihnen Krähen nur zu
nahe kamen.[17]
Der schlechte Ruf bezog sich aber immer auf die schwarzen
Raben, denn Schwarz war die Farbe des Teufels. Um nun in unserer Geschichte
diesen schlechten Ruf zu umgehen, wandte man einen erzählerischen Trick an und
machte aus einem schwarzen bösen Raben einen weißen guten Raben. Dadurch verlor
er seinen Schrecken. Allerdings erklärt das immer noch nicht, warum
ausgerechnet ein weißer Rabe durchs Land flog und Botschaften verkündet.
Wir müssen also nochmal zurück zu den vorchristlichen
Religionen. Wie wir schon wissen wurde der Rabe bei den Römern als Weissager
eingesetzt und galt bei den Kelten als Bote zur Anderswelt. In der germanischen
und wikingischen Mythologie symbolisierte der Rabe sogar die Weisheit selber.
Der Göttervater Wodan hatte stets die beiden Kolkraben Hugin und Munin bei sich, die auf seinen
Schultern saßen und ihm berichteten, was auf der Welt vor sich ging.[18] Deswegen können wir den weißen Raben auch so deuten, dass das Weiß von weise
abgeleitete ist. Wir sprechen also von einem ursprünglich weisen Raben, bei dem
sein Äußeres gar keine Rolle spielt. Das passt dann auch viel besser zu der
Rolle als Botschafter und Verbreiter von bisher verborgenen und geheimen
Wissen.
Wie kommt nun so eine Sage in die Welt? Vielleicht haben
Heilkräuterkundige Frauen oder Männer die Geschichte in Umlauf gebracht und
versucht auf diese Weise ihr Wissen zu teilen. Dabei nahmen sie den Umweg über
diese Geschichte, vielleicht um selbst nicht als Heilkräuterkundig zu
erscheinen. Denn sas hätte sie schnell in die Ecke von Hexern und Hexen
gebracht und eine große Gefahr für ihr Leben bedeutet. So aber konnte die
Botschaft in den Mund eines weißen Raben gelegt werden, der immer noch als
glaubwürdiger Botschafter galt. Und so hat sich die Botschaft zumindest im
Vogtland verbreitet.
Natürlich ist dieser letzte Gedanke hochspekulativ und wir können
ihn auch nicht beweisen. Allerdings können wir die weite Verbreitung im
Vogtland belegen, durch das Auftreten der Sage an vielen unterschiedlichen
Orten im Vogtland. Und so tritt diese Sage auch in Hof auf, allerdings nur als Anhängsel
an die Sage vom langen Mann von Hof.
[1] Andreas Reichhold, Sagen aus
Bayerns Nordostgebieten, 8. Auflage (Hof: Hoermann Verlag, 1976).
[2] „Rapontika / Nachtkerze
(Oenothera biennis) | Wissenswertes | Saatgut A-Z | Samen O - Samen &
Saatgut“, zugegriffen 18. Dezember 2020,
https://www.magicgardenseeds.de/Wissenswertes/Rapontika-Nachtkerze-(Oenothera-biennis)-A.OEN01-.
[3] „Nachtkerzen“, in Wikipedia,
8. August 2020, https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Nachtkerzen&oldid=202609740.
[4] „Rapunzel-Glockenblume“, in Wikipedia,
29. November 2020,
https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Rapunzel-Glockenblume&oldid=206048484.
[5] „Glockenblumen |
Mittelaltergazette“, zugegriffen 19. Dezember 2020,
http://mittelaltergazette.de/12658/wissenswertes/glockenblumen/.
[6] „Alles über Rapunzel - das
Märchen entschlüsselt“, zugegriffen 19. Dezember 2020,
https://www.gabriele-uhlmann.de/rapunzel3.htm.
[7] „Der blaue Federkiel: Pflanzen
in der Literatur - Teil 2: Der Fall Rapunzel“, Der blaue Federkiel
(blog), zugegriffen 19. Dezember 2020,
https://blauer-federkiel.blogspot.com/2016/10/pflanzen-in-der-literatur-teil-2-der-fall-rapunzel.html.
[8] Ellen Wulfers, „Heilpflanzen
als Mittel gegen die Pest im Mittelalter und in der frühen Neuzeit*“, Schweizerische
Zeitschrift für Ganzheitsmedizin / Swiss Journal of Integrative Medicine
26, Nr. 1 (2014): 34–44, https://doi.org/10.1159/000358109.
[9] WDR, „Rabenvögel: Mythologie“,
25. März 2020, https://www.planet-wissen.de/natur/voegel/rabenvoegel/pwierabenindermythologie100.html.
[10] WDR.
[11] Artlay, „Raben in der
Geschichte – RABENVÖGEL“:, zugegriffen 25. Dezember 2020,
https://www.tiamat.at/Rabenvogel/?p=412.
[12] WDR, „Rabenvögel“.
[13] WDR.
[14] Artlay, „Raben in der
Geschichte – RABENVÖGEL“.
[15] Artlay.
[16] „Raben und Krähen“, in Wikipedia,
15. Dezember 2020, https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Raben_und_Kr%C3%A4hen&oldid=206562974.
[17] WDR, „Rabenvögel“.
[18] „Raben und Krähen“.