Der Schlüsselstein
Vor langer Zeit, als noch Sorben das Land östlich der Saale bewohnten, stand auf der bewaldeten Höhe zwischen Stanau, Strößwitz, und Bremsnitz eine Burg. Sie war, wie zu der Zeit üblich, nur aus starken Holzstämmen errichtet. Der Herr dieser Burg war ein Grenzwächter des Orlagaues, der diesen Bau als Lehen von dem Grafen der Sorbenmark empfangen hat. Es war die Belohnung für treue Dienste in den Kämpfen, die zur Unterjochung der Sorben führten. Der Grenzwächter war nicht nur für die Sicherheit des Grenzgebietes verantwortlich, ihm war auch der Einzug der Abgaben und die Aufsicht über die Frondienste unterstellt. Diese Aufgaben erfüllte er mit Härte und strenger Hand, deshalb war er bei den Sorben, in den Dörfern rund um die Burg sehr gefürchtet und noch mehr verhasst.
Auch in seiner Familie war der Herr schroff und hart. Unter
der Rauheit seiner Sitten und seines Charakters litt vor allem seine Frau, die
oft harte Worte zu hören bekam, vor allem dann wenn sie Mitleid für andere zeigte
und besonders dann wenn sie Partei für die leidgeplagten Sorben ergriff. Ebenso
litt der jüngere Sohn unter der Strenge des Vaters, weil er den milden
Charakter der Mutter geerbt hatte und sich nie an den Misshandlungen der
sorbischen Hörigen beteiligte. Der ältere der beiden Brüder kam voll und ganz
nach seinem Vater und war dessen Liebling. So kam es bei der Eintreibung von
Abgaben und der Züchtigung der säumigen Schuldner häufig zu Streit zwischen den
Brüdern, weil der ältere der Meinung war, dass sein jüngerer Bruder die
„Sorbenhunde“ viel zu milde behandelte.
Als eines Tages die beiden Brüder von einem solchen
Strafritt nach Hause kamen, beschwerte sich der Ältere beim Vater über die
Milde des Jüngeren. Da packte den Vater eine solche Wut, dass er sprach: „Gehe
aus meinen Augen und von meiner Burg, du bist enterbt!“ Unter Tränen
verabschiedete er sich von seiner Mutter und sagte zu ihr, er wolle Mönch
werden um den geplagten Sorben des Orlagaus die Segnungen des Christentums zu
bringen.
Auf der Burg herrscht seit jenem Tag kein Frieden mehr. Der
Burgherr wurde immer zorniger und gewalttätiger. Seine Frau war über all die
Dinge so bekümmert, dass sie bald starb. Die Rohheiten des älteren Sohns und
zukünftige Burgherren traten nun immer deutlicher hervor, da nun der mildernde Einfluss
des jüngeren fehlte. Vor allem die Knechte und Mägde hatten einiges zu
ertragen.
Auf seine alten Tage wurde der alte Burgherr von seinem
Gewissen geplagt. Als er im Sterben lag, ließ der den Burgkaplan sowie seinen
Erben kommen und sprach zu ihnen: „Meinen zweiten Sohn hab ich verstoßen, aber
die Enterbung heb ich auf. Ihr sollt dort, wo das Gelände sich neigt, einen
Stein setzen. Bis dahin soll das Wiesenland und Ackerfeld dem Verstoßenen
gehören. Und der Stein soll die Form eines Kreuzes haben. Denn solange mein Zweiter,
der sich dem Dienst des Gekreuzigten gewidmet hat, nicht wieder kehrt, dient
dieser als Denkmal für ihn.“ Der Burgherr starb. Und sein Sohn wurde nun
Burgherr und obwohl es ihn widerstrebte ließ er den Stein mit der Kreuzform an
der geheißenen Stelle setzen.
Jahre gingen ins Land. Da klopfte eines Abends ein müder
Wanderer in Mönchskutte an das Tor der Burg. Es war der jüngere Bruder des
Burgherrn. Er brachte wichtige Botschaft: „Die Sorben, unter denen ich lange
gepredigt habe und unter denen ich viel herum kam, planen einen Aufstand gegen
ihre Unterdrücker. Als erstes soll deine Burg fallen und im Erdboden
gleichgemacht werden, weil du immer der schlimmste und brutalste Unterdrücker
im ganzen Orlagau warst.“ Als der Burgherr das hörte, lachte er hell auf: „Wer
von den Sorbenhunden kann lebend über die Gräben kommen? Wer von denen soll das
feste Tor zerschlagen? Und wer soll es bis auf die hohen Pfahlmauern schaffen?“
Angesichts dieser scheinbaren Sicherheit, in der sich sein Bruder wähnt, warnt
ihn sein Bruder noch einmal eindringlich: „So wahr ich dein Bruder bin, sei auf
der Hut und rüste dich für die Verteidigung deiner Burg!“ Doch sein Bruder
blieb starrsinnig und schrie ihn im Zorn an: „Was? Mein Bruder! Du willst mich
wohl um mein Erbe bringen? Hinaus! Hinaus, aus meiner Burg!“ Und so ging der
Mönch mit gesenkten Haupt über die gesenkte Zugbrücke hinaus, die sich hinter
ihn wieder hob, in das Dunkel der Nacht hinein.
Da wurde es auf einmal unter den Bäumen lebendig. Die
Vergeltung in Gestalt unzähliger Sorben nährte sich langsam der Burg. Langsam
rückten sie vor, bis sie mit einem furchtbaren Kriegsgeschrei zum Sturm
übergingen. Schnell stand die Burg in Flammen. Es dauerte nur wenige Stunden
bis die Besatzung und alle Bewohner tot am Boden lagen, alles Gut und Tiere
weggebracht und nur noch verkohlte Rester der Burg übrig waren.
Als der graue Morgen einen ersten Blick auf das Schlachtfeld
freigab, fanden die Sorben auch den Mönch erschlagen in der Nähe der Brandruine.
Er war ihr Freund geworden. Sie hatten ihn geachtet, auch wenn sie seiner Predigt
nicht glaubten und bei ihren alten Göttern blieben. Als sie auch noch den Stein
mit den Kreuzarmen sahen, begruben sie ihn dort. Das Denkmal, das an sein
Verschwinden zu Lebzeiten erinnerte, wurde nun zu einen Gedenkstein, der von
seinem Leben und Wirken im Orlagau kündete.
Der Name dieser Burg ist nicht mehr bekannt. Die Kreuzarme
am Stein sind verwittert oder abgeschlagen. Auf der oberen Fläche hat der Regen
den Stein ausgehöhlt, sodass sie aussieht wie ein Schlüssel, daher bezeichnet
man heute den Platz, wo die Burg stand, als den Schlüsselstein.
Diese Sage besteht mindestens aus drei Teilsagen: Der älteste
Teil der Sage ist der Teil, mit dem Niederbrennen der Burg aus Holzstämmen. Es
war wohl eher eine sorbische Burg, die von den Sachsen niedergebrannt wurde und
an ihrer Stelle hat man dann ein Burg für einen Grenzwächter zur Zeit Ottos I.
des Großen aus Stein gebaut. Das führt nun zur zweiten Sage, die hier
eingeflossen ist. Die Geschichte mit dem Grenzwächter, dessen Burg überfallen
wurde. Und als drittes gibt es da noch diesen Stein in Form eines Kreuzes, den
man als Sühnestein oder Sühnekreuz identifizieren kann. Allerdings wurden
solche Steine erst am Ende des Mittelalters gesetzt, sodass wir diese
Geschichte eindeutig als einen dritten Teil herausstellen können.
Die genauen Hintergründe für die Annahme, dass sich die Sage
aus mehreren Teilen zusammensetzt gibt es beim nächsten Mal.