Entstehung einer Sage



Heute wollen wir uns mal nur mit der Entstehung einer Sage beschäftigen. Die Sage vom Schlüsselstein ist da ein gutes Beispiel, weil sie besonders vielschichtig ist, mit Geschichten, die aus verschieden Epochen stammen und zu einer Sage verbunden wurden. Es ist allerdings nicht ganz leicht die einzelnen Schichten aufzudröseln, denn je älter eine Sage ist, desto schemenhafter sind die Spuren, die zu den wirklich passierten Vorfällen führen. Wir wollen aber doch versuchen, wie ein Archäologe die einzelnen Schichten der Sage nach und nach freizulegen.

Beginnen wir bei der ersten Aufzeichnung der Sage. 1902 zog Harry Wünscher durch die Dörfer und schrieb alles auf was ihn die Leute an Geschichten erzählten. Danach ordnete er alles und veröffentlichte es in dem Buch Sagen Geschichten und Bilder aus dem Orlagau. Darunter war auch unsere Sage. Und man muss es sich sehr klar bewusst machen, nur deshalb kennen wir die Sage heute noch, denn vor allem durch die Erfindung von Radio und Fernsehen musste man sich nicht mehr selber Geschichten erzählen, dadurch brach die mündliche Überlieferung ab. Allerdings veränderte der Aufschrieb die Sage auch selber, denn dadurch war sie nicht mehr den Veränderungen einer mündlichen Überlieferung unterworfen. Jeder der schon mal stille Post gespielt hat weiß wie ungenau das mündliche Weitertragen ist. Aber gerade durch diese Ungenauigkeiten ist die Sage so vielschichtig geworden, weil jeder Erzähler unbewusst ein kleines Stück von sich selbst in die Sage hinein gibt. Ein Erzähler kann auch gar nichts anderes machen, als die Sage aus seiner Sicht, mit seinem Glauben, seinen Ansichten und seinen Werten zu erzählen. Im Laufe der Jahrhunderte waren Sagen so einer ständigen Veränderung unterworfen. Als sie dann aber aufgeschrieben wurden, konnte nichts mehr in sie einfließen, kein Glaube und keine Ansicht des Erzählers. Es fanden auch keine Verschmelzungen mehrerer mit anderen Geschichten statt. Eine Sage wird so auf einem bestimmten Stand eingefroren.

Jetzt passiert aber etwas anderes, die Sprache entwickelt sich weiter. Nach über 100 Jahren, die seit 1902 vergangen sind, klinkt die Geschichte heute alt und teilweise ist auch der Text schon schwer zu verstehen, weil man vor 100 Jahren andere Textkonstruktionen benutzt hat als heute. Aus diesem Grund versuchen wir alle Sagen, anhand der vorliegenden Quellen, aber mit einer aktuellen und leicht verständlichen Sprache neu zu erzählen, allerdings auch wieder in Schriftform. Vielleicht wird es mal einen Podcast geben, dann werden die Geschichten auch wieder mündlich weitergegeben. Solang das nicht der Fall ist, müssen wir uns mit der Problematik von schriftlichen Fixierungen arrangieren. Denn erzählte Geschichten sind durch Tonlage, Betonung und Erzählgeschwindigkeit immer lebendiger als Geschichten die man nur liest. Und genau das passierte vor 100 Jahren auch, lebendige, volkstümliche, mündliche Erzählsprache wurde durch Schriftsprache ersetzt. Dazu kam noch, dass zu der Zeit das Bildungsniveau zwischen den Erzählern und den Aufschreibern noch viel größer war. Die Sagensammler unserer Region, also vor allem die Brüder Grimm, Ludwig Bechstein oder Harry Wünscher, waren studierte Leute und trafen bei ihren Sammlungen vor allem auf Bauern und Arbeiter die nur wenig Bildung genossen hatten und an Geister, Heimchen und den Wilden Reiter glaubten. Bei aller Hingabe, die sie zu ihrer Aufgabe entwickelt hatten, schrieben sie die Sagen deshalb mit der Haltung eines Beobachters auf, so kam es dann auch zu einer gewissen ungläubigen Distanz der Erzähler in vielen Sagen. Aber nochmal, wir können es diesen Sagensammlern nicht hoch genug anrechnen, dass sie diese Sagen aufgeschrieben haben, denn sonst hätten wir heute nichts mehr, über das wir erzählen könnten.

Wir haben nun die oberste Schicht freigelegt, vermessen und archiviert und wissen, das Aufschreiben von Sagen verändert ihren Erzählstiel und fixiert die Geschichte für die Zukunft. Für unsere nächste Schicht müssen wir etwas tiefer graben, denn die nächsten Anhaltspunkte finden wir im späten Mittelalter. Es sind die Steinkreuze. Diese wurden im Spätmittelalter für Personen gesetzt, die plötzlich aus dem Leben gerissen wurden, also etwa durch Mord oder einem tödlichen Unfall ums Leben kamen. Man glaubte damals, Seelen geraten ins Fegefeuer wenn vor dem Tot nicht die letzte Ölung vorgenommen werden kann. Solche Steinkreuze wurden dann gesetzt, um diese Seelen wieder aus dem Fegefeuer zu erlösen.

Im Zuge der Reformation verlor dieser Glaube an Bedeutung. Ersatzhandlungen zum Erlangen des Seelenheils, wie Ablasshandel, Wallfahrten, Stiftungen an Kirchen und Klöster wurden als unwirksam erachtet. Auch das Setzen von Steinkreuzen gehörte dazu und wurde deshalb eingestellt. Die Steinkreuze, die wir heute noch vorfinden, bzw. die vor 100 oder 200 Jahren noch zu sehen waren, stammen aus dem 13. Und 14 Jahrhundert. Wahrscheinlich ist der Schlüsselstein, der ja der Sage seinen Namen gab, für einen Ermordeten oder Verunfallten errichtet worden, der in der Nähe der Burgüberreste gefunden wurde. Als man ein paar hundert Jahre später die Bedeutung der Steinkreuze nicht mehr kannte, wurden sie für die Leute geheimnisvoll. Und weil das Steinkreuz in so unmittelbarer Nähe der Burgreste stand, musste es auch mit der Geschichte zu tun haben und so verwob man zwei die Geschichte von den geheimnisvollen Burgüberresten mit dem geheimnisvollen Steinkreuz.

Als nächstes sehen wir uns die Wallanlagen in der Nähe des Schlüsselsteins an. Überreste von Wallanlagen und Gräben stammen in der Regel von Burgen aus Stein. Burgen die rein aus Holzstämmen errichtet wurden, haben kaum Spuren hinterlassen, die bis in die heutige Zeit reichen. Außerdem war es nicht üblich tiefe Gräben um Burgen aus Holz zu ziehen. Man begnügte sich mit einem breiten Streifen aus Dornenbüschen, die für die Angreifer undurchdringlich waren. Die Burgen und Wallanlagen, deren Spuren man heute noch im Ostthüringer Raum findet, stammen meist aus dem 10. Und 11. Jahrhundert, also aus der Zeit Ottos I. des Großen. Und genau jener Otto I. sorgte mit einem Strategiewechsel dafür, dass die gegenseitigen Überfälle zwischen Franken, Sachsen und Thüringen auf der einen Seite und Sorben auf der anderen Seite aufhörten.

Die Strategie von Otto I. bestand aus zwei Teilen. Einerseits ließ er im Sorbenland starke Burgen errichten und besetzte diese mit Grenzwächtern. Diese sorgten dafür, dass die Frone und Abgaben eingetrieben wurden, außerdem erstickten sie Überfälle im Keim. Dieser Teil der Strategie ging voll auf und sorgte dafür, dass die Deutschen (ab der Zeit Ottos I. kann man wirklich von den Deutschen sprechen) nun nachhaltig die Oberherrschaft über die Sorben errangen. Der zweite Teil sah vor, den Sorben auch den christlichen Glauben überzustülpen. Verantwortlich dafür waren Mönche, die vor allem von Saalfeld aus ausschwärmten und in den Dörfern der Sorben predigten. Allerdings brachte diese Strategie kaum Erfolge. Die Sorben blieben bei ihrer Religion und beteten noch weitere drei Jahrhunderte ihre Götter an. Die Ostkolonisation im 12. Und 13. Jahrhundert, also die gezielte Einwanderung von deutschen Bauern aus Franken, Flandern und dem Rheinland, veränderte die Bevölkerungszusammensetzung dann grundlegend. Die Kolonisten fluteten regelrecht das Land, auf einen Sorben kamen mehr als zehn Deutsche. Dadurch kamen die Sorben zwangsläufig mit den Deutschen in Kontakt, ihre Kinder Heirateten Deutsche und nahmen deren Kultur und Glauben an. Das meiste Sorbische verschwand so innerhalb von zwei bis drei Generationen. Übrig blieben nur Familien- Orts- und Flurnamen sowie die Geschichten und Legenden. Allerdings lebte der alte Glaube in abergläubigen Vorstellungen und Sagenwesen, wie etwa Waldweibel und Nixen fort, die sich dann auch schnell unter den deutschen Bauern verbreiteten.

Was bedeutet das aber jetzt für unsere Geschichte? Es ist sehr gut möglich, dass sich der Kern der Geschichte so oder so ähnlich zugtragen hat. Es gab einen Burgwächter mit zwei Söhnen, die unterschiedliche Charakter besaßen und sich so folglich oft gestritten haben. Und dann überträgt der Burgwächter sein gesamtes Erbe an seinen älteren Sohn und schickt den Jüngeren ins Kloster um Mönch zu werden. Im Hochmittelalter war das, ein ganz normales Vorgehen, aber zu Zeiten Ottos I. war das noch sehr unüblich. So unüblich, dass sich daraus eine Geschichte entsponnen haben kann.

Eine letzte Frage die sich jetzt noch stellt ist: Warum erzählt man sich, dass die Burg aus Holz gebaut war und nicht aus Stein, obwohl die Grenzwächterburgen schon aus Stein gebaut waren und wir wissen, dass es nach den Überresten zu deuten wohl eine Steinburg war? Um diese Frage zu beantworten muss man wissen, dass gerade die Grenzwächterburgen nicht willkürlich in die Landschaft gesetzt wurden, der Standort wurde sehr sorgfältig gewählt. Die Burg sollte möglichst durch natürliche Gegebenheiten schwer zugänglich sein, sollte aber dennoch eine Zufahrt haben, über die alle nötigen Dinge leicht heran geschafft werden können. Diese Zufahrt musste aber wiederum leicht abzuriegeln sein. Die Burg durfte auch nicht zu weit abgelegen von den anderen Siedlungen liegen, denn diese sollten ja kontrolliert werden und diese ernährten ja auch die Burgbewohner mit ihren Fronen. Ebenfalls sehr wichtig war das Vorhandensein von Wasser, sodass man auch eine Belagerung über Wochen, Monate und sogar Jahre durchstehen konnte. Diese Gegebenheiten mussten beim Bau von Burgen schon immer beachtet werden, deswegen baute man Burgen sehr häufig an Standorten, wo vorher schon Burgen gestanden haben, oft sogar mehrere verschiedene, die bis weit in die Bronzezeit zurück reichen, also bis zu 2000 Jahr vor Christi. Bekanntestes Beispiel ist die Ausgrabung von Troja, wo man immer wieder noch ältere Teile der Stadt ausgegraben hat. In unserem Fall können wir davon ausgehen, dass dort eine Burg der Sorben stand, die üblicherweise aus Holzstämmen gebaut war. Diese Burg ist mit Sicherheit bei Kämpfen niedergebrannt. Vielleicht waren das Kämpfe zwischen Sorben und Franken, Sachsen oder Thüringer, es können aber auch Kämpfe der Sorben untereinander gewesen sein, denn die gab es auch. Auf jeden Fall ist so überliefert worden, dass dort eine Burg aus Holz stand, die bei Kämpfen niederbrannte.

Und so kommen wir zur Zusammenfassung.

Es gab also dort wo heute Strößnitz, Stanau und Bremsnitz liegen eine Burg der Sorben, die ganz aus Holzstämmen gebaut war, zusätzlich wurde diese Burg von außen durch Dornenbüsche und anderes Gestrüpp beschützt. Allerdings war diese Burg nicht gegen Feuer gefeit und so brannte sie bei einem Angriff nieder. An Stelle der alten Holzburg errichtete man im Auftrag von Otto I. eine neue Burg aus Stein, die einem Grenzwächter als Ausgangspunkt diente um das Land der Sorben, das zu der Zeit schon 200 Jahre in Frankenhand war, zu befrieden und zu beherrschen. Dieser Burgwächter hatte zwei Söhne, die ganz unterschiedlich von Charakter waren, was zu ständigen Zank und Streit der beiden führte, der auch in der Öffentlichkeit ausgetragen wurde, sodass jeder im Umkreis der Burg von dieser Zwietracht wusste. Als sich nun der Vater zu den zur damaligen Zeit ungewöhnlichen Entschluss durchrang, den Jünger ins Kloster zu schicken, wohl auch um spätere kriegerische Auseinandersetzungen im Mannesalter der Beiden zu verhindern, kochte natürlich die Gerüchteküche in der Gegend über. Schnell wurde daraus eine große Geschichte, die von Generation zu Generation weiter erzählt wurde. Denn es war ja nicht nur eine einfache Geschichte, sie diente auch vortrefflich als warnendes Beispiel, wohin Zank und Zwist führen kann. Solange die Burg aus Stein noch stand kannte man auch immer noch die Geschichte vom Abrennen der Vorgängerburg. Als es aber die Burg aus Stein auch nicht mehr gab, wurden die beiden Geschichten miteinander vermischt. Dann passierte im Spätmittelalter in der Nähe der Burg ein Unfall oder ein Mord. Aus diesem Grund setzte man dort einen Sühnestein. Dann kam die Reformation und es wurde unüblich Sühnesteine zu setzen. Schnell vergaß man, warum diese Steine überhaupt in der Gegend stehen und so wurden sie geheimnisvoll. So geheimnisvoll, dass man diese Kreuz wunderbar in die Geschichte einweben konnte. Von Generation zu Generation wurde die ganze Geschichte nach und nach verfeinert und passend gemacht, bis dann Anfang des letzten Jahrhunderts Harry Wünscher kam und die Geschichte aufschrieb und fixierte. Ja so oder so ähnlich kann sich die Geschichte zugetragen haben. Aber natürlich wissen wir es nicht, denn vieles davon ist konstruiert, aber konstruiert aus gesicherten Wissen, das wir über die Geschichte der Region an der oberen Saale haben.

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