Die Liebesprobe
Wir verlassen unser gewohntes Sagengebiet der oberen Saale
und begeben uns auf die Hainleite, ein kleiner Höhenzug südlich des Harzes.
Dort steht die Burg Lohra, von der eine Sage überliefert wurde, die der Sage
vom letzten Ritter von Liebschütz sehr ähnelt.
Der letzte Graf von Lohra lebte einst auf der Burg zusammen
mit seiner sehr schönen Tochter Adelheid von Klettenberg, die bereits heimlich dem
Ritter Ludwig von Straußberg versprochen war.
Eines Tages zog der Graf wieder wie so oft zu Felde. Diesmal
gegen die Bürger der freien Reichsstadt Mühlhausen. Auch der junge Ritter zog
mit in die Schlacht. Doch bevor sie aufbrachen sagte die junge Grafentochter zu
ihren Verlobten: „Gib mir ja auf meinen Vater acht und schirme ihn vor dem
Feind ab“. Der junge Ritter aber war ein rechter Feigling und als es hart auf
hart kam, floh er aus dem Getümmel. Von weiten sah er dann wie der alte Graf in
arge Bedrängnis kam und von seinen Feinden erschlagen wurde, ohne dass er auch
nur den kleinen Finger rührte.
Der feige Ritter nahm aber seinen Mut zusammen und brachte
der Tochter die traurige Nachricht. Allein es half nichts, sie war erschüttert
und enttäuscht von ihrem Verlobten und wollte ihn nie wieder sehen. Und auch
allen anderen Männern schwor sie ab: „Nie vermähle ich mich!“
Sie war nun die Gräfin Adelheid und verantwortlich für die
Grafschaft. Doch sie konnte ihrem Land nicht den nötigen Schutz geben den es
benötiget. Immer wieder wurde sie von ihren Nachbarn angegriffen, denn ein Land
in dem eine Frau herrscht, sahen sie als schutzlos an. Es kam zu Raub und
Plünderungen. In ihrer Not forderten die Untertanen von ihr, sie solle sich
endlich mit einen starken Gatten vermählen, der die Grafschaft besser schützen
kann als sie allein. „Nein ich habe geschworen“ sagte sie darauf. Doch in der
folgenden Nacht erschien ihr Vater in ihren Träumen und entband sie von ihrem
Schwur.
Am nächsten Tag verkündete sie: „Sie werde sich nur dem
anvertrauen, der sich durch Mut und Unerschrockenheit auszeichnete, der sogar
bereit war sein Leben für sie zu opfern. Deshalb stelle ich alle Bewerber auf
eine Probe. Ich werde nur den heiraten, der es schafft, die Ringmauer meiner
Burg auf der äußeren Krone zu umreiten“.
Von überall aus dem Lande kamen nun die Edelleute und begehrten
die bildhübsche Adelheid zur Frau. Aber alle mussten ihren Wagemut mit dem
Leben bezahlen, denn sie stürzten in den Burggraben hinab und blieben dort
zerschmettert liegen. Lange Zeit sah es dann so aus, als ob es kein Ritter mehr
wagen würde um die Hand der schönen Gräfin anzuhalten. Doch endlich erschien
eines schönen Tages der junge und schöne Graf Volkmar von Klettenberg. Er ritt
ruhig auf der Krone entlang. Und als er an jene glatten Steine der Burgmauer
kam, an der alle anderen abgestürzt waren, streute er Asche auf die Stelle,
sodass er gefahrlos darüber hinweg reiten konnte.
Mit Freuden willigte Adelheit in eine Hochzeit mit dem
Klettenberger ein. Es brachte der Grafschaft Ruhe. Adelheit kam zum Nachdenken
und so wuchs die Reue über die Vergeudung so vieler tapferer Leben. Sie
versuchte ihre Schuld zu tilgen, indem sie ihren Untertanen viel Gutes tat. Sie
gründete sogar das Kloster Walkenried und stattete es reich aus. Trotz alle dem
konnte sie keine Ruhe finden, denn sie musste immer wieder an die vielen
Bewerber denken, die sie so hartherzig in den Tod getrieben hatte.
Auf der Burg soll heute noch um Mitternacht der Geist der
Adelheit umgehen, als Strafe für ihre Sünden. Gesehen hat ihn aber lange keiner
mehr. Was man aber noch sehen kann sind die drei Kreuze, die in die Ringmauer
eingehauen sind, genau an jener Stelle, an der die Bewerber von den glatten
Steinen abgerutscht sind.
Die Gemeinsamkeiten der beiden Sagen
Wie am Anfang bereits erwähnt, gibt es viele
Gemeinsamkeiten, mit der Sage vom letzten
Ritter von Liebschütz, die wir hier einmal deutlich machen wollen. In
beiden Sagen stehen die Frauen vor einer Hochzeit und können sich, ganz gegen
die Gepflogenheiten des Mittelalters, ihren Ehemann selber wählen. Im
Normalfall wurde die Braut vom Vater verheiratet, um neue Bündnisse zu
schmieden oder bestehende Bündnisse zu festigen. Das Problem daran ist, die
Frauen wollen sich gar nicht vermählen, bzw. sie haben keine Vorstellung davon
wer der Richtige für sie ist. Wir finden dieses Motiv in vielen Sagen und
Märchen wieder, unter anderem auch bei dem sehr bekannten Märchen König
Drosselbart. Solche Erzählungen können die Vermutung nahe legen, mit solchen
Konstellationen soll davor gewarnt werden, Frauen selbst die Entscheidung zu
überlassen, wen sie heiraten wollen. Dagegen spricht aber die Existenz von
Sagen und Märchen deren Vorzeichen genau andersrum sind, wenn also der Mann
wählen kann und sich aber auch nicht entscheiden kann. Bekanntestes Beispiel
dafür ist das Märchen Aschenbrödel. Womöglich sollte es im Allgemeinen gegen
die Wahl der unvernünftigen Jugend und für die von den Eltern arrangiere
Hochzeit sprechen und so das mittelalterliche Weltbild stützten. Es kann aber
auch nur sein, dass die nicht arrangierte Hochzeit als ein gutes Einstiegsmotiv
für verschieden Geschichten genutzt wurde, gerade weil es so ein ungewöhnlicher
Vorgang war.
Eine weitere Gemeinsamkeit ist die Mutprobe vor der
Hochzeit, die in beiden Fällen auf Leben und Tod hinausläuft. Auch dieses Motiv
kann man in abgewandelter Form in vielen Sagen und Märchen antreffen. Im
Nibelungenlied müssen die Freier zum Beispiel einen Wettkampf gegen Brünhilde
bestehen, bei dem ebenfalls viele ihr Leben ließen. Etwas abgewandelt und nicht
gleich ersichtlich kommt das Märchen Dornröschen daher. Denn es gibt einen
Zauber der erst nach 100 Jahren aufgehoben ist. Aber im Grund gibt es auch hier
die Freier, die eine Aufgabe erfüllen müssen – die Dornenhecke überwinden – und
alle scheitern und bezahlen es mit ihren Leben, bis auf einen.
Wie es scheint, geht das Motiv der Mutprobe vor einer
Hochzeit zurück bis zu den Indogermanen. Es kommt jedenfalls in Geschichten,
Mythen und Sagen vieler indogermanischer Völker vor. So ist uns aus der
griechischen Mythologie die Geschichte von Oinomaos überliefert.
Oinomaos war König von Pisa, einer Landschaft im antiken
Griechenland, nicht zu verwechseln mit der italienischen Stadt mit dem schiefen
Turm. Er hatte eine wunderschöne Tochter Hippodameia. Allerdings wurde ihr in
Delphi geweihsagt, ihr zukünftiger Ehemann wird auch der Mörder von ihrem Vater
sein. Daher verlangte Oinomaos von jedem, der um die Hand der Tochter anhielt,
dass er ein Wagenrennen mit ihm bestreite. Oinomaos war ein Sohn des Kriegsgottes
Ares und bekam von ihm zur Geburt die windschnellen Pferde mit Wagenlenker
Myrtilos geschenkt. Er hatte so einen unschlagbaren Vorteil, den er gnadenlos
einsetzte, indem er jedem Bewerber einen Vorsprung beim Rennen gab und ihm beim
Einholen ein Speer in den Rücken schleuderte. Erst als Pelops, ein weiterer
Anwärter auf die Hand der Tochter Hippodameia, einen Pakt mit dem Meeresgott
Poseidon schloss, konnte Oinomaos besiegt und getötet werden. Pelops wurde
König und die südliche Halbinsel Griechenlands bekam seinen Namen, Peloponnes.
Vielleicht waren bei den Indogermanen bestimmte Rituale
üblich, die aus Mutproben bestanden, um den Segen der Götter zu bekommen. Diese
wurden dann in den Erzählungen und Mythen der Nachfolgevölker weitererzählt, vervielfältigt
und tauchen dadurch in vielen verschieden Geschichten in ganz Europa sowie den
Mittleren Osten bis hin nach Indien auf.
Diese weite Verbreitung kann aber auch von etwas anderem her
rühren, bei dem in Erzählungen wiedermal mehrere Sachen miteinander vermischt
wurden. Bei allen Völkern überall auf der Welt gibt es Initiations-Riten, die
den Übertritt vom Kind zum Erwachsenen markieren, bzw. den Eintritt in
bestimmte Erwachsene Kreise symbolisieren. Auch in unserer modernen
Gesellschaft können und wollen wir auf solche Rieten nicht verzichten. Deswegen
gibt es bei den Katholiken die Firmung, bei den Evangelischen die Konfirmation
und die Konfessionslosen haben die Jugendweihe. Vor der Initiation stand häufig
eine Mutprobe, die erst bestanden werden musste bevor der junge Mensch in den
Kreis der Erwachsenen eingeweiht wurde. Im Normalfall muss man aber Erwachsen
sein, um heiraten zu können. Hier wurde also die Mutprobe vor der Aufnahme ins
Erwachsensein mit der Heirat verknüpft.
Mutproben werden aber vor allem der Jugend zugeschrieben.
Die Mutproben werde aber bei beiden Sagen von Ritter ausführen. Das passt natürlich
nicht zusammen, denn schließlich sind Ritter schon Erwachsen und haben ihre
Initiation, den Ritterschlag, hinter sich. Diesen Ritterschlag bekam kein Knappe
der nicht schon seinen Mut bewiesen hatte. Zwar gab es nie die eine Mutprobe,
aber in der langen Lehrzeit, die mit sechs oder sieben Jahren begann, mussten
viele Dinge gelernt werden, wie die Jagd, verschiedene Kampfformen höfische
Umgangsformen und vieles mehr. Dabei mussten alle Anwärter immer wieder mit Mut
und Tapferkeit beweisen, dass sie würdig für den Ritterschlag waren. Es hätte
also völlig genügt, wen die Frauen einen Ritter akzeptiert hätten. Hier wurden
also wieder einmal zwei Motive der Erzähl- und Sagenwelt miteinander verknüpft.
Dieser gemeinsame Ursprung der Sagen und Legenden kann also
auf Mutproben vor einer Initiation zurückgeführt werden, die bei allen
indogermanischen Völkern verbreitet war. Allerdings wird sie selten tödlich
ausgegangen sein und wenn, dann war es nur ein Unfall. Die Jugendlichen sollten
dadurch nur stark gemacht werden und nicht umgebracht, denn schließlich brauchte
sie ja noch.
Eine weitere Gemeinsamkeit ist das Bestrafen der Bosheit,
die diese Mutproben darstellen. Hier kann man zwischen den Zeilen sehr Klar die
christliche und besonders die reformatorische Wertvorstellung heraus lesen.
Beide Frauen, die von der alten Tradition Gebrauch machten – dem Bräutigam auf
die Mutprobe zu stellen – werden bestraft. Die Gräfin Adelheit soll zur Buse
sogar ein Kloster errichtet haben. Gerade im späten Mittelalter waren die
Menschen besonders abergläubisch und auch viele alte Riten und Traditionen wurden
so in die christliche Glaubenswelt aufgenommen. Die Reformation wollte diese wieder
los zu werden. So wurden viele Formen des Aberglaubens und vor allem alte
Traditionen bekämpft, die als unsinnig und gotteslästerlich erachtet wurden.
Diesen Kampf führten die Kirchenreformer und ihre Anhänger nicht nur von der
Kanzel herab, sie erfand auch Geschichten oder deutete Geschichten um. Alter
Aberglaube wurde so als etwas Verdammenswertes dargestellt. Nicht umsonst
begann die Hexenverfolgung erst mit der Reformation, wobei gerade Einflüsse von
alten Naturreligionen den Hexen zugeschrieben wurden.
Wir können so die Entstehung der Sagen auf den Zeitraum der
Reformation festlegen. Übrigens, das Kloster Walkenried kann deshalb auch nicht
von der Gräfin Adelheid von Klettenberg – und auch nicht von Kunigunde von
Knast, die manchmal anstelle der Adelheit genannt wird – gegründet worden sein,
denn es wurde schon im Jahr 1127 errichtet, von Zisterzienser Mönchen, wie es
Urkundlich überliefert ist.
In beiden Sagen wird von einem letzten Ritter bzw. von einem letzten
Grafen gesprochen, was uns den nächsten Hinweis bringt. Am Ende des
Mittelalters war die Welt im Umbruch begriffen. Neuartige Waffen, wie Musketen
und Kanonen, machten schwer gepanzerte Ritter überflüssig. Die Macht der Städte
nahm immer mehr zu und der Landadel verarmte – eine Anspielung darauf ist der
Tod des alten Grafen, ausgerechnet durch die Bürger der Stadt Mühlhausen – und
der Einfluss der kleinen Grafschaften und Fürstentümer nahm ab. Das spiegeln
auch die beiden Geschichten wieder, denn der Ausdruck letzter ein Art drückt ja schon die Vergangenheit aus, über die man
berichtet. Im Grunde bestätigt das genau den Entstehungszeitraum der
Reformation, den wir schon herausgearbeitet haben.
Bleibt noch die letzte Gemeinsamkeit: Die drei eingehauenen
Kreuze, einmal in den Fels gehauen und einmal in einen Stein der Ringmauer der
Burg Lohra. Wenn man den Stein der Ringmauer von Lohra etwas genauer
betrachtet, sieht man, dass er später hinzugefügt wurde. Die drei Kreuze wurden
also nicht in einen schon vorhandenen Stein eingehauen, sondern in einen extra dafür
angefertigten Stein. Neben den verwitterten Steinen der Mauer erinnert er an
einen Grabstein und genau diese Funktion sollte er auch haben. Die drei Kreuze
stehen in dem Zusammenhang für die Dreifaltigkeit von Vater, Sohn und Geist.
Das Motiv ist heute noch oft auf Grabsteinen von katholischen Friedhöfen
anzutreffen. Der Stein wurde also schon vor der Reformation, die in
Nordthüringen etwa um 1530 Einzug hielt, gesetzt. Aber eben auch nicht mit dem
Burgbau, sondern weitaus später. Als Zeitrahmen können wir so das
Spätmittelalter annehmen.
Wahrscheinlich ist an beiden Stellen, in Lohra und bei Walsburg,
ein Mensch verunglückt. Deswegen wurden die drei Kreuze in die Steine
geschlagen. Diese Unfälle sind im Spätmittelalter passiert. Und wie bei den
Sühnesteinen kannten die Menschen nach einiger Zeit die wahre Bedeutung nicht
mehr und suchten nach Erklärungen. Meist sind ja die einfachsten Erklärungen
die besten, aber die sind oft langweilig, deshalb greifen manche Menschen auch
heute noch gern auf die abenteuerlicheren Geschichten zurück, wie sonst kann
man an die Existenz von Chemtrails glauben oder auf die Idee kommen, die
Bundesrepublik existiert gar nicht? So haben die Menschen damals rund um die
Kreuze eine Geschichte entwickelt. Dabei sind dann auch ältere, dem einen oder
anderem bekannte Erzählungen mit eingeflossen.
Diese beiden Sagen sind also, wie so viele andere, aus
mehreren Geschichten zusammengeflossen. Mit großer Wahrscheinlichkeit haben die
erzählten Ereignisse so nie stattgefunden. Und dennoch kann man so viel aus
diesen Geschichten herauslesen.